Die wesentliche aktuelle Internetkritik hängt damit zusammen, dass immer mehr Aktivitäten bei einem immer höheren Vernetzungsgrad im Internet möglich sind, und dass bei jeder Aktivität sowohl die Einzelaktion als auch die Verknüpfung mit der Umgebung auf Datenbanken festgehalten werden kann. Lieschen Müller kauft bei Amazon, googelt nach Diversem, zeigt bei facebook ihren 200 Freunden Urlaubs-, Familien- und Berufsfotos. Sie bucht Ihre Reisen bei Opodo, woanders bucht sie Musicals und in google-Mail hat sie Kalender, Kontakte und viele Adressen. Wenn Lieschen in einem Callcenter, das vielleicht in Indien liegt sich nach einem neuen Provider für ihr Handy erkundigt, gibt der gut deutsch sprechende Inder ihren Namen in seine spezielle Firmensoftware ein, und schon hat er ein Profil von Lieschen, ob sie kreditwürdig ist, welche Vorlieben sie hat, wo sie sich vermehrt aufhält, etc. Lieschen merkt davon nicht, und wundert sich nur, wie passgenau ihr ein Angebot unterbreitet wird. Algorithmen machen es möglich, aus riesigen Datenmengen Cluster zu formen und Zuordnungen zu berechnen.
Das ist nicht Utopia, sondern heutige Realität. Die ungeklärte Frage ist nur, wie dramatisch ist das, und wie stark verändert so etwas den Kit der Gesellschaft?
Das Internet ist öffentlicher Raum, und ein Charakteristikum von Öffentlichkeit ist, dass sie öffentlich ist! Z.B. war das soziale Zusammensein in der Provinz immer etwas, das von vielen Augen bewacht wurde. Fast noch heute flanieren auf italienischen Plazzas die Jugendlichen. Man sieht, wie wer gekleidet ist, wer mit wem zusammen ist, wo eingekauft wird, man weiß sogar die Schulnoten, man kennt die illegalen Romanzen der Dorfgalane, etc. Der Provinztyp ist quasi eine nackte Person, die nichts tun kann, ohne observiert und kommentiert zu werden. Dennoch gibt es einen großen Unterschied zum Internet. In der Provinzöffentlichkeit wissen etliche etwas mehr als andere, aber im Prinzip wissen alle alles. Im Internet wissen ganz wenige „alles“ und alle wissen eigentlich nichts.
Der sozialen Überwachung zu entgehen war auch ein Antrieb in die großen Städte zu wechseln, wo all diese Kontrolle in der Anonymität der Masse verschwand. Aber gesichtslos ist der Großstädter auch nicht. Hier glaubt der Einzelne selbst zu bestimmen, welche Signale er in die Öffentlichkeit abgibt. Wer Fahrrad fährt, wer joggt, wer mit großem Hut flaniert, wer aus einem hoch poliertem SUV steigt – sie alle tragen ein Stück ihres Profils nach außen. Genauer betrachtet, ist das, was die Einzelnen preisgeben, aber auch nicht ganz unter ihrer Kontrolle. Der Stadtkämmerer, der beim Aldi gesehen wird, mag diese Entäußerung weniger. Eine Hausadresse, die das soziale Umfeld belegt, kann nicht verborgen bleiben, etc.
Aus modernem, individualistisch geprägten Denken wünschen wir also durchaus privat geschützte Räume, in die weder der Staat, noch der Arbeitgeber noch die Nachbarn hineinschauen können. Die Großstadt als adäquater Raum moderner (westlicher) Gesellschaften scheint den Vorzug zu haben, dass jeder (in Grenzen) sich soweit veröffentlichen kann, wie er will, und nicht wie ihm die übrige Öffentlichkeit vorschreibt. Diese Kontrolle, meinen Öffentlichkeitsraum selbst zu bestimmen, habe ich im Internet nicht mehr.
Facebook-Lieschen glaubt, selbst zu bestimmen, was sie von sich preis gibt, aber die eingangs gezeichneten Mechanismen des allgegenwärtigen Datensaugens und der Algorithmierung aller Datenpartikel lassen diesen Glauben zur Illusion werden.
Fazit, wie man es auch wendet, der öffentliche Internetraum hat in unserer Erfahrung keine Parallele, so dass wir nur zwei Szenarien zur Entscheidung haben:
a) Wir könnten versuchen, diesen Raum wieder abzuschaffen (oder als Einzelner, sich ihm verweigern) und
b) Wir können das Internet akzeptieren und lernen, wie wir uns relativ unbeschadet darin bewegen können.
Ich unterstelle mal mit meinen beschränkten intellektuellen Möglichkeiten, dass a) nicht realistisch ist, und b) scheint mir eigentlich lösbar und wünschbar.
Das Dilemma von Facebook (als Prototyp für den Internetraum) besteht darin, dass, was den Individuen gut tut, zugleich höchst wertvoll für den Verwertungsprozess ist. Das Gebaren der Einzelnen, wird zur gut verkäuflichen Ware für den Bereitsteller des Showrooms. Das ist der Preis dafür, eine offene Kommunikation zu haben. Neben den vielen bekannten Vorteilen für den ständigen Zugriff auf verstreute Information ist die niedrigschwellige Kommunikation im Netz ein großes Potential für die Aufnahme von Neuem. Der viel geschmähte „Freund“ in facebook ist potentiell die gesellschaftlich legitimierte Öffnung gegenüber dem Fremden. Nun darf jemand in unsere Tür treten, den wir nicht kennen, und wir können empfänglich sein, für das, was er mitbringt. Und wenn er oder sie „nichts“ bringt, dann stört das kaum, und wenn es stört, schlägt man die Tür wieder zu. So offen kann eigentlich nur virtuelles soziales Handeln sein, im realen Fall wäre das zu gefährlich, zu aufwändig.
Gäbe es in meinem Internetraum nichts zu sehen, nichts zu erfahren, kämen keine Fremden herein. D.h. Dieses Prinzip für Neues offen zu sein, funktioniert nur mit einem gewissen öffentlichen Exhibitionismus. D.h. Zur Schaustellung und neues Kennenlernen bedingen sich. Gebe ich mehr von mir preis, kann die Krake mehr Daten sammeln. D.h. Neues kennenlernen und verwertbare Daten preisgeben, bedingen sich ebenfalls.
Wer im Netz kommuniziert, trägt einen Datenwert, das bringt ihn in die Rolle eines VIPs, den die Paparazzi verfolgen. Und wie unsere Politiker und Stars gelernt haben, sich glänzend in der Öffentlichkeit zu präsentieren, obwohl ihre Daten unerbittlich gesammelt, gebündelt und aufbereitet werden, so muss jeder Internetuser wissen, wie er sich zu seinem Nutzen präsentiert.
Sofern man nicht in einer Diktatur lebt, läuft der Großteil der Datenalgorithmierung darauf hinaus, mich zu einem gefügigeren Konsumenten zu machen. Dagegen hilft kritische Distanz gegen alles, was mir automatisch vom Netz her empfohlen wird. Selbst bei der Googlesuche, muss ich unterstellen, dass der erste Treffer ein Reinleger ist, den soll ich ziehen, aber nein, Googlekrake, den ziehe ich nun gerade nicht! U.s.w.
Wenn bislang nur über die Kommunikationspotentiale und -Gefahren diskutiert wurde, darf nicht übersehen werden, dass ein weiteres Problem im Medium steckt, das der Parallele des realen öffentlichen Raumes nur bedingt entspricht. Ein öffentlicher realer Raum, in dem nicht gerade Nazihorden und andere Kriminelle Areale verunsichern bzw. besetzt halten, gibt es so etwas wie einen gleichen Zutritt. Jeder kann zu jeder Stelle des Raumes gelangen. Gut, wer mehr Geld hat, kann sich in größeren Räumen bequemer bewegen. Im Internet ist nicht das Geld die Barriere (das könnte allerdings noch kommen, wenn die meisten Dienste Geld verlangen), sondern der Verstand. Wissen aus dem Netz zu ziehen, den Konsumverlockungen Eigenes gegenüber zu stellen, setzt Wissen voraus. Diejenigen, die durch Bildungsmangel sich im Netz nicht bewegen können, sind abgehängt. Die Netzklassengesellschaft zerteilt die User in tumbe Konsumenten der Angebote und in produktive Nutzer der Räume. Gegen dieses Phänomen hilft nur Bildung. Je wichtiger das Netz gesamtgesellschaftlich wird, desto schädlicher wirkt es auf die unqualifizierten Bildungsrandständigen.