Im Zuge des Lernen 2.0 Hype sagen die progressiven Journalisten den Untergang des Buches gegenüber der Auferstehung der Clouds voraus. Martin Lindner beschwört am 7.12. in der taz „Das Buch verdunstet in der Wolke“ den Untergang des gedruckten Buches, wie einst der Untergang des Theaters gefürchtet wurde angesichts des aufkommenden Films. Taz-Chefpädagoge Christian Füller legt am 27.12. mit dem Kommentar „Vom Server lernen“ nach. Er kritisiert die Schulbuchtrojaner, die er als letzten hilflosen Versuch ansieht, das Buch (bzw. den Profit daran) in der Schule zu retten. Was wir bräuchten, sei die Inhalation verflüchtigten Wissens aus den Tiefen des Netzes, wo alles zu finden sei. Beide Autoren kritisieren zu Recht schlechten Unterricht mit Buchvorlagen in den Schulen. Sie schütten aber das Kind mit dem Bade aus, wenn mit dem angeblichen digitalen Klimawandel der Bildungssektor voll auf die digitale Seite verwiesen wird. Sie unterschätzen dabei die Bedeutung zusammenhängender Darstellungen, wie sie nun einmal in der Buchform, von einem guten Lektor redigiert, zwischen Deckel gebunden, möglich und nötig sind.
Wer ein profundes Fachwissen hat, kann mit dem Häppchenwissen aus der Wolke glänzend arbeiten, aber Lernende denen der Überblick fehlen, klicken bei Wikipedia, und müssen das glauben, was da steht. Die Aneignung neuen Wissens durch Netzrecherche ist ein ziemlich komplexer Vorgang, der eigentlich erst ab einem bestimmten Wissenslevel des Recherchierenden erfolgreich und produktiv verlaufen kann. Dieser kritische Einwand gilt gegen eine Buchlektüre nicht, weil in einem Buch, oder auch in einer Fachzeitschrift herrschendes Wissen, das auf Erfahrung der Autoren aufgebaut ist, gut konsumierbar geronnen wurde, so dass einem Leser sich so etwas wie eine ganzheitliche Welt zum Stoff aufbaut, was Orientierung ermöglicht. Im (guten) Buch kommt zwar auch nur die Gesamtschaut der Autorenerfahrung zum Ausdruck, aber das spannt ein Bedeutungsgebäude auf. Ein punktuelles Rechercheergebnis ist dagegen ein aus dem Kontext gezogenes Informationspuzzel, das in ein Wissensgebäude gehört, von dem der Recherchierende im Zweifelsfall keine Ahnung hat, bzw. das ihm keine Gesamtorientierung vermittelt.
Ich bin Betreuer und Gutachter vieler Masterarbeiten. Dabei sehe ich in der Regel, dass eine schlechte Masterarbeit, d.h. eine solche, die weder der Darstellung noch der Lösung einer Fragestellung gerecht wird, als Ergebnis ein hilfloses Puzzel von schlecht passenden Zitierungen darstellt. D.h. dem Schreibenden fehlt eine Orientierung im Fachfeld, die er sich offensichtlich in seinem Rumgewusel in der Cyberwolke nicht verschaffen konnte.
Man könnte sagen, der hat eben noch nicht richtig recherchieren gelernt. Meine Gegenthese ist, zum richtigen Recherchieren bedarf es eines zusammenhängenden Hintergrundwissens, das ich mir durch die (ebenfalls nicht ganz triviale) verständnisvolle Lektüre von Büchern besser aneignen kann. D.h. das „Festwissen“ aus Büchern und die Bits aus der Cloud können und werden sich gut ergänzen. Wer Büchern den Tod ansagt, öffnet einer Idiotengesellschaft die Tür. Und wenn dann noch gegen Bücher in der Schule gewettert wird, wo soll dann überhaupt eine Kompetenz entstehen, Dinge in Zusammenhängen kennen zu lernen?