Wem gehört die Zukunft?

Vor fast einem Jahr erhielt Jaron Lanier den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels für sein Buch: Wem gehört die Zukunft? Lanier gehört zu den Internetpionieren. Er ist 1960 in New York geboren, hat beim Atari mit gewerkelt, kennt viele Größen des Silkon Vallys oder der Thinktanks vom MIT persönlich, galt mit seinen Dreadlocks als Popstar der Internetgemeinde, nun ist er ihr Dissident. Ich hatte voriges Jahr seine Preis-Rede in der Paulskirche nachgelesen, die mir schon sehr blumig-schwammig vorkam, und war gespannt auf sein Buch, durch das ich mich seit Wochen mühsam quäle. Es wimmelt von eigenen Begriffsschöpfungen, die mehr verstellen, als sie erhellen, es werden wichtige Hypothesen geäußert, für die aber außer einem amerikanischen Buchzitat keine Beweise angeführt werden. Es wimmelt von Passagen, die ich schlicht nicht verstehe, weil sie mehr Nebelkerzen als logische Deduktionen ausbreiten – warum hat dieses Buch den Friedenspreis bekommen? Was sagt eigentlich die Kritik dazu, frage ich mich, als ich etwa die Hälfte der Seitenzahl erklommen habe.
Der von den Kritikern wiedergegebene Plot macht die Verleihung verständlich. Lanier habe das Bild vom Netz als große Demokratiemaschine entlarvt. In Zeiten von NSA und Snowden war eine Abrechnung mit den Datenkraken Google und Facebook überfällig. Lanier entwirft eine Dystopie, nach der die Macht hat, wer über die schnellsten Rechennetze („Sirenenserver“) verfügt und die ganze kapitalistische Entwicklung stehe im Bann der Algorithmenbeherrscher, die mit Big Data eine gigantische Arbeitsvernichtungsmaschine in Gang setzen, welche den Mittelstand liquidiere.
(vgl: David Hugendick Zeit, Gerrit Bartels Tagesspiegel, Andrian Kreye Süddeutsche)

Seine Beispiele sind beeindruckend, aber auch ungenau. Er verweist auf den Kodakkonzern, der z.Zt. der analogen Fotografie über 140000 Mitarbeiter beschäftigte und ca. 28 Milliarden Dollar wert war, während die von Facebook für eine Milliarde gekaufte Fotoplattform Instagram gerade mal aus 13 Mitarbeitern bestand. Der Vergleich spiegelt schön den Wahnsinn der Internetfirmenwerte, aber er ist schief, weil Kodak nicht an BIG Data gescheitert ist, sondern noch ganz klassisch von vielen anderen Anbietern in der innovativen Produktentwicklung und Nutzung überflügelt worden war.
Eindringlich legt Janier bei dem amerikanischen Supermarktriesen Walmart dar, dass dieser wohl als erster mit Nutzung der Großcomputer Kunden- und Lieferantenanalyse betrieb, und mit diesem Informationsvorteil gegenüber den noch analog arbeitenden anderen Märkten erhebliche Konkurrenzvorteile absahnte. D.h., hast Du die größeren Rechner, geht Dein Marktgegner gnadenlos unter. Die selbe Argumentation wird gegen den Börsen-Hochfrequenzhandel angeführt, je mehr Power, du hast, desto mehr Marktmacht, die sich auf immer weniger Leute verteile, ist dir gegeben. Das klingt wie ein Technologiemechanismus. Von agierenden Menschen mit Strategien, von politischen Strukturen, von Lobbyismus, etc. wird gar nicht mehr gesprochen. Aber so automatisch läuft es wohl dann selbst nach Lanier doch nicht. In einem späteren Kapitel wird über den Allmachtswahn der Internetgurus gespottet, und der „Nachweis“ geführt, dass die „Sirenenserver“ keine echten Prognosen leisten können, weil die erhobenen Daten interpretiert werden müssen, was Irrtümern Tor und Tür öffnet. Es gibt auch einen wirtschaftstheoretischen Abschnitt, in dem Lanier wohl darlegen will, dass in einem Markt (bei ihm „Internetökonomie“) mit vielen Anbietern nur Suboptima möglich seien, währen bei einem Monopolisten der Markt langfristig zusammenbrechen muss. Die literarischen Bilder hierzu sind Bergsteiger auf einer gewölbten Fläche mit mehreren Gipfeln, die in Vielfalt innovative Wege fänden, während sie als Schar hinter einem Anführer das weniger können (Lob des Liberalismus). Der Internetmonopolist ist der die gesamte Umwelt aufsaugende Sirenenserver, der an seiner Abwärme kollabiere, wenn diese zur Umwelt gehöre.
Lanier hat (das sagt er sogar freimütig in einer Fußnote) einmal einen Kommentar zu Marx im Radio gehört, er wird sicher bei Wikipedia Rousseau nachgeschlagen haben, und er hat wohl mal ein Kompendium zur Makroökonomie überflogen. Mit diesem Alltagswissen ausgestattet, schäumt er Theoriegebäude auf, schwadroniert über den Marxismus und andere Geistesströmungen, um zu belegen, was er intuitiv an Veränderungen in unserer Gesellschaft spürt. Mich nervt das bei der Lektüre gewaltig. Um z.B. zu erfahren, dass die marktwirtschaftlichen Theorieansätze und die Praxis des Wirtschaftsgeschehens weit auseinanderklaffen, muss ich mich nicht über 20 blumige Seiten bei Lanier quälen, das sagt einem unverblümt jeder Wirtschaftsprofessor zu Beginn seiner Vorlesung.
Wichtige Thesen, wie beispielsweise die Frage, ob mit der Durchdringung des Internets insgesamt Arbeitsplätze entfallen, werden von ihm behauptet, aber leider an keiner Stelle bewiesen, oder auch nur ansatzweise empirisch zu belegen versucht. Die Frage der Roboterisierung, bzw. Durchdringung der früher analogen Technologien mit mehr und mehr computergesteuerten Elementen sollte man nicht ohne weiteres mit Big Data verknüpfen, d.h. mit der massiven Auswertung großer Datenmengen. Das sind zwei Prozesse, die für eine Analyse der Gesamtentwicklung differenziert betrachtet werden sollten. Deutschland ist z.B. stark gegenüber früheren Jahren „roboterisiert“ und uns gehen z.Zt. die Arbeitskräfte aus, wo sind die Freisetzungen, wo ist die reduzierte Mittelschicht? Lanier wird sagen, das kommt noch – vielleicht, vielleicht aber auch nicht!
Am Beispiel der japanischen Pflegeroboter stellt Lanier eine These zur Arbeitsmarktdifferenzierung vor. In etwa 10 Jahren werden die z.Zt. in Japan entwickelten Pflegeroboter für die zunehmende Schar an Senioren Marktreife haben, dann wird seines Erachtens der Pflegeprozess in den Pflegeheimen so organisiert, dass die Roboter die Grundlast fahren und nur noch wenige, schlecht bezahlte Pflegearbeit für das übrig bleibt, was die Roboter nicht leisten können (die Dequalifizierungsthese). Ökonomisch klafft nach Lanier in allen entwickelten Industrieländern die Schere zwischen wenigen, die enorm viel Vermögen haben, und vielen, die wenig Vermögen haben zunehmend auseinander. Aber auch das behauptet er einfach, ohne es belegen zu können. Ich weiß nur, dass es auch Studien gibt, die das nicht belegen.
Schon im Grundtenor (der Stimulus für die Preisverleihung), dass die Sirenenserver Sicherheiten vorgaukeln würden, die es nicht gäbe, dass der Glaube, alles kostenlos im Netz haben zu können naiv sei, etc. wird von Lanier meines Erachtens zu viel polarisiert. Dass Segnungen des Netzes mit ganz erheblichen Kollateralschäden verbunden sind, muss uns nicht ein Internettechnologe erzählen, das wissen wir schon längst. Ich nutze z.B. Facebook, und unter der überschaubaren Zahl meiner „Freunde“ ist niemand, der nicht wüsste, dass Facebook uns ausnimmt und ständig am Randes des Datenschutzes schrammt. Die Problematik des Hochfrequenzhandels ist kaum einem Leser von Tageszeitungen verborgen geblieben, und die Mechanismen, wie Amazon und Google ihre Marktmacht ausweiten, sind zwar den allermeisten unklar, aber dass das eine Bedrohung darstellt, darüber zweifelt kaum jemand. Auch die jüngste Weltfinanzkrise, die wir hatten, ist nicht durch Big Data ausgelöst worden, sondern hier haben Menschen versagt, die die Stellschrauben für Kreditnahme zum Häuserbau zu stark lockerten, und die Finanzpapiere schnürten, die die Risikoverteilung ins Unverantwortliche steigerten. Und weltweit haben Finanzhasardeurte aus Dummheit oder Gewinnsucht das ganze Spiel multipliziert. Jedem einzelnen Täter langte dazu ein lahmer Laptop, mit einem ganz gewöhnlichen Netz als Transfermedium, also ein Minisirenchen.
Die Frage, welchen Stellenwert Big Data in der Gesamtentwicklung überhaupt hat, ist heute nur sehr schwer einzuschätzen, und wird von Lanier nur höchst unpräzise angepeilt. Mit seinem technologischen Bild vom Sirenenserver lenkt er von den Tätern und von gesellschaftlichen Prozessen nur ab. Globalisierung, wie sie heute von global Playern praktiziert wird, ist zwar ohne ein globales Internet gar nicht machbar, aber der weitere Ausbau des Netzes, das weitere Anwachsen von Datenströmen ist nicht die Ursache, sondern die Folge der sozial-ökonomischen Prozesse. Was die nächste schlimme Krise weltweit auslösen könnte, oder was die Lebensbedingungen derer, die heute ständig unter Krieg und Ausplünderung leiden, wirklich verändern könnte, das wird sehr wahrscheinlich eben nicht allein von BIG-Data und Sirenenservern abhängen. Die Faktoren, die unsere Zukunft beeinflussen, scheinen mir weit über den doch etwas zu technologischen Tunnelblick Laniers hinaus zu gehen. Soweit seine Systemanalyse.
Sein Lösungsvorschlag wird in den einleitenden Abschnitten schon mehrfach angedeutet. Im Buch ist es mehr das letzte Drittel, das ich nicht mehr zu lesen beabsichtige. Genial einfach verlangt Lanier schon im Anfangstext, dass wenn die Sirenenserver von uns Daten klauben, dann ist das ja eine Rohstoff für ihren Profit, also sollten sie für die Entnahme dieses Rohstoffes uns entgelten. D.h. wenn ich nach einer Fahrradhose googele, und Googel sich meine IP notiert, sie verknüpft, und mich als Zielperson an die Werbeabteilung der Fahrradbekleidungsindustrie zu 10 Cent verhökert, dann soll mir Google gefälligst für diesen Klick einen Teil des Erlöses zurück überweisen. Wer den ganzen Tag herumgoogelt, hat abends vielleicht 100 Euro Tantiemen ergoogelt, bei der googelnden Mittelschicht kommen dadurch große Geldbeträge an, und Googel ist zukünftig nicht mehr ganz so reich ….
Wer die zweite Buchhälfte liest, wird dazu sicher Genaueres erfahren, aber aus den Buchkritiken Anderer entnehme ich mehrheitlich, dass diese Fiktion, dass Googel zu seiner eigenen Sozialisierung bereit sei, doch wohl eine recht realitätsferne Annahme sei. Immerhin, das muss zur Ehrenrettung des Autors gesagt sein, er offenbart sich nicht als ein Internethäretiker, sondern will Optimismus verbreiten, dass wir es noch in der Hand haben, das Netz zu einer humaneren Entwicklung zu verändern.

Meine bescheidene Meinung zum Internet besteht darin, dass wir mit der Computerisierung und dem Netz ein neues, großartiges Werkzeug haben, das ähnlich wie das Aufkommen der Maschinen (Mechanisierung) nicht „neutral“ ist, es verändert unser Leben, es strukturiert neu. Aber wie diese Veränderung läuft, das ist nicht ein digitaler Determinismus, da gibt es keinen an sich „guten“ oder „bösen“ Pfad, das ist mehr eine evolutionäre Entwicklung, die Veränderungen schafft, die immer wieder neue Herausforderungen betreffen, die gemeistert werden. Auch Big Data ist eine Entwicklung an deren Beginn wir erst stehen. Nach Lanier ist Big Data so gefährlich, weil man sehr viel Kapital braucht, um darüber zu verfügen. Das ist richtig und bedarf entsprechender Regularien. Aber vielleicht gibt es in 20 Jahren nach einer technologischen Chiprevolution ein Speicher an meinem Handgelenk, der es mit einer modernen Serverfarm aufnehmen kann – dann wird das Problem anders aussehen, und wir werden sicher neue Probleme haben.

 
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