Das Verschwinden des Souveräns?

Im Absolutismus war der König der Souverän, das bedeutet wörtlich, derjenige, der über alles befindet. Damit hatte er auch den Zugang zur Information, um zu wissen, worüber er zu befinden hat. In der Republik wurde diese Vormacht abgeschafft, das Volk wurde zum Souverän erklärt. Bildung, Zugang zum Wissen wurde entprivilegiert bis hin zur Volksbildung, bzw. den heutigen modernen Bildungssystemen mit Schulpflicht. „Die Entscheidung geht vom Volk aus“.

Als Metapher für den gebildeten Durchschnittsbürger, der zur Entscheidervorhut gehört, wurde häufig der „Zeitleser“ gesehen. Wenn ein Journalist über einen komplexen, schwierigen Sachverhalt schreibt, soll er sich im Verständnisgrad seiner Schreibe an der Zielgruppe „Zeitleser“ orientieren. Nie hat auch der „Zeitleser“ alles verstanden, worum es im Staatswesen und der Zivilgesellschaft gerade ging, aber er war immerhin „gut informiert“. Als deutscher Kulturbürger musste er den Faust kennen, aber naturwissenschaftliches Mangelwissen gehörte dazu. Generationen von Intellektuellen waren „schlecht in Mathe in der Schule“, was kein Makel war. Tendenzmeinungen, bzw. Positionsmeinungen im gesellschaftlichen Umfeld lieferten Zeitungen und Organisationszugehörigkeiten. Ein FAZ-Leser war liberalkonservativ, ein Rundschauleser sozialdemokratisch und ein Gewerkschaftler einfach links ausgerichtet.

Diese heile Welt der Gesinnungssicherheiten ist längst zerbröselt. Was rechts, links, oder grün bedeutet, ist absolut schillernd und unbestimmt. Die Zeitschriften positionieren Pro- und Contra-Seiten, oder verurteilen im politischen Teil die Geldpolitik der EZB als geldmarktzerstörend, und öffnen im Feuilleton einer Autorin mit staatlicher Regulierungsvorliebe die Spalten. Mag sein, dass einige Leser das gar nicht mitbekommen, aber sicher sind etliche Leser irritiert bei der Suche nach einer verlässlichen politisch-sozial-kulturellen Marschroute. Andere (die meisten Jugendlichen) lesen Zeitungen überhaupt nicht mehr, sie informieren sich in Talkshows, Werbesendungen, sozialen Netzen und anderen Internetauftritten. Hat sich da etwas verändert? Oder haben wir Gleiches auf veränderter Stufenleiter?

An drei Phänomenen lässt sich exemplarisch zeigen, wie das Verstehen gesellschaftlicher Veränderungsprozesse in der Tendenz immer schwieriger erscheint.

1. Digitale Revolution

Der Übergang von analogen Maschinen und Prozessen zu digitalen ist ein Abstraktionssprung, der mit dem Verlust der unmittelbaren Veranschaulichung verbunden ist. Wie ein analoges Uhrwerk mit Zahnkränzen, Feder und Unruhe funktioniert, das ist aus der Erfahrungswelt noch gut vorstellbar. Nahezu jeder Mann konnte in den Nachkriegsjahrzehnten das Prinzip eines Verbrennungsmotors erklären, und im Zweifelsfall substantielle Reparaturen an seinem Auto durchführen. Wie eine quarzgesteuerte Uhr tickt, ist da schon etwas anderes. Wie ein I-Phone funktioniert, wie ein damit geschossenes Foto in die Clowd wandert, und plötzlich auf dem Tablet erscheint, weiß auch der „Zeitleser“ heute schon lange nicht mehr.

2. Globalisierung

Am deutlichsten bei der Finanzkrise, aber auch sichtbar bei Fragen zum IS oder zur Ukraine, wird erfahren, dass die Bestimmungen zur Beschreibung dieser Phänomene weit über gutes Kulturwissen hinausgehen. Auch in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts gab es schon Global Players, aber die massive Verdichtung der Interdependenzen (möglich geworden durch digitale globale Netze) hat ein Niveau erreicht, das von Einzelnen kaum noch überschaubar ist. Man kann Al Jazeera vom Sofa aus zuschauen, und glauben, man hätte Erste-Hand-Information aus dem vorderen Orient, wenn da nicht die Geldgeber des Senders, Ideologien bei den Journalisten und Gewinnerzielung als Turbulenz in der Redlichkeit der Botschaften mitgedacht werden müssten. Unsere Meinungen sind mehr als früher Reflexe auf Medienmeinungen, weil der Entscheidungshorizont ferner, unanaschaulicher geworden ist. Der „Zeitleser“ springt auf Katastrophenmeldungen an, reagiert auf emotional gefärbte Bilder (Flüchtlingselend, geköpfte Geiseln), und ist zunehmend verwirrt über die Widersprüchlichkeit ehemals verlässlicher Verlautbarungen. Die Zeitung als sicherer Trendberichter hat ausgedient, Expertenstimmen sind meist schwer einzuschätzen, und kommen zu widersprüchlichen Urteilen.

3. Algorithmen

Jeder kennt den Begriff, aber wer weiß, wie ein Algorithmus funktioniert? Wer weiß, was z.B. Google damit macht? Der Zusammenhang von Daten war früher säuberlich getrennt in abhängige und unabhängige Variablen. Als Algorithmus diente ein knappes Set von Gleichungen, die mit Werten gefüttert zu einem nachvollziehbarem Rechenergebnis führten. Da hatte auch der „Zeitleser“ seine Schwierigkeiten mit, aber da vollzog sich etwas auf gesichertem Grund. Eine Korrelation, eine Regressions- oder eine Faktoranalyse waren vertraute Analyseinstrumente, die auf Wikipedia nachschlagbar sind. Ein moderner Algorithmus kann eine Ansammlung von hunderten von „Gleichungen“(Operationsregeln) sein, die mit Millionen Daten millionenfach durchgenudelt werden, bis eine Struktur sichtbar zu sein scheint, von der auch die Algorithmenanwender nicht genau wissen, was das eigentlich ist, aber es könnte hilfreich bei einer Zusammenhangserklärung sein. Die Optimierungs- oder Strukturfindungsverfahren von heute sind im Detail nicht mehr verstehbar, es sind Blackboxes.

Die auf Algorithmen basierenden neuen Geschäftsmodelle, z.B. über Datenanalyse Werbung an ausgefilterte Zielgruppen zu verkaufen, sind extrem intransparent. Ob der Kunde oder der Beworbene einen Schaden davon trägt, wer will das entscheiden, wenn man nicht weiß, was da im Detail alles passiert? Wer dirigiert Werbung in unsere Surfvorgänge, wie wird unsere Internetrecherche durch Kontextualisierung verändert? Mit welchen Daten gelingt es der Polizei Kaliforniens und auch bald bei uns, Verbrechensprognose zu erstellen? Wer weiß, dass in einer großen Drogeriekette die Nachfrage und das Auftreten von Warteschlangen vor der Kasse mit Algorithmen simuliert werden, die ein Abfallprodukt der High-Tech-Forschung des CERN sind? So, wie heute die ständig ausweitenden digitalen Komponenten im Auto vom „normalen“ Fahrer weder verstanden noch repariert werden können, so verstehen wir selbst die Abläufe, die hinter dem Ladentisch unseres Supermarktes fungieren, nicht mehr.

Fazit dieses gedanklichen Kurzausfluges: Entwickelt sich der Volkssouverän zum Unsouverän? Blicken wir immer weniger durch, so dass wir unfähig werden, an relevanten Zukunftsentscheidungen teil zu haben?

Was tun? Diesen Prozessen kann man nicht Halt gebieten, und frühere Zustände zurück sehnen. Die Gesellschaft muss Mechanismen entwickeln, mit der zunehmenden Komplexität umzugehen.

  • Mehr Bildung, um besser zu verstehen, ist eine Richtung, die bereits – wenn auch viel zu wenig – eingeschlagen ist. Die Masse der Bürger ist allein mit Verweis auf die verdoppelte Quote der Abiturienten im Vergleich zu den Nachkriegsjahrzehnten heute besser gebildet. Mehr Bildung brauchen wir nicht nur, um im Wettbewerb Innovationen hervorbringen zu können, sondern wir brauchen sie auch, um unsere Zeit zu verstehen!
  • Besser Informieren ist die zweite Richtung. Die Informationsaufbereitung über Medien unterliegt einem Transformationsprozess, dessen Richtung gegen die alte Zeitung läuft, aber was dafür kommt, scheint noch unklar. Über Informationsmangel kann man sich kaum beklagen, der Kundige findet zu allem mehr Information, als er verarbeiten kann. Deshalb scheint mir ein Ersatz für die alte Zeitungsredaktion, wo eine Gruppe sehr gut Informierter Werturteile fällte, was relevant ist, und was nicht, dringend geboten. Es ist wohl leider so, dass das kein einfaches Onlineabbild sein kann, denn von der „einfachen/mehrheitsabgestimmten“ Botschaft werden wir uns verabschieden müssen. Szenarien, und Klassifikationen von Sichtweisen werden gebraucht. Hinter einer Kurzinformation brauchen wir einen Link zu einer Hintergrunderklärung und einen weiteren zur Kontextvertiefung. Und wie das zu finanzieren ist, steht noch einmal auf einem anderen Blatt. Journalisten müssen ihren Allwissenheitsduktus einstampfen und stärker als früher auf die Referenzen verweisen, woher sie ihre Daten bezogen haben.
  • Der Bürger als Botschaftsempfänger braucht mehr Medienkompetenz als früher. Er muss die digitalen Dateninstrumente bedienen können, und braucht an erster Stelle die Kompetenz zum kritischen Sichten. Hinter jeder Botschaft steht ein Sender mit Interpretationsabsicht. Auch mehr Metakompetenz, die Komplexitätsreduktion selbst einschätzen zu können, wird gebraucht. Ich muss z.B. nicht die Derivatenprodukte des Finanzmarktes kennen, um einzusehen, dass mehr Bankenkontrolle wichtig ist (auch wenn zu viel schädlich sein kann!). Man muss aufgeben, über alles mitreden zu wollen. Das Delegationsprinzip von Liquid Democracy, nach dem ich einer Person, die auf einem Gebiet gut durchblickt, vertraue, und sie zu meinem Sprachrohr werden lasse, kann das Überinformationsproblem auch entschärfen.
  • usw.
 
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