Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur der Spätmoderne.

Andreas Reckwitz hat seinem Bestsellersachbuch „Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne“ (Berlin 2017) im Jahre 2019 einen Reader nachgeschoben, der sich wesentlich auf das Singularitäten-Buch stützt und dessen Thesen weiter vertieft. Der Titel ist nicht unbescheiden „Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne“. Man kann grob sagen, dass das ein kultursoziologischer Beschreibungsansatz ist, wobei sich mir bei der Lektüre die Frage aufdrängte, originell, oder alter Wein in neuen Schläuchen?

Reckwitz unterteilt die Nachkriegsentwicklung in zwei große Phasen: von 45 bis in die 70er entfaltete sich die Industriegesellschaft. Es ist eine kulturkonservative, nivellierte Mittelstandsgesellschaft, deren Individuen nach Statuserhalt/Steigerung streben und sich in ihren sozialen Milieus geborgen fühlen. Ab Mitte 70er und besonders nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion startet die Globalisierung durch und der Neoliberalismus wird zur Leitwährung, weil die Zentralverwaltungssystem gescheitert waren. Es vollzieht sich der Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft, die Reckwitz ausdifferenziert und „Spätmoderne“ nennt, die sich durch eine Gesellschaft der Singularitäten auszeichne. Nach Reckwitz entsteht ein polarisierter „Postindustrialismus“ und ein kognitiv-kultureller Kapitalismus (vgl. Kap.3). Die Gesellschaft spaltet sich in drei Klassen auf, die prekäre Klasse, die „alte“ Mittelklasse und die neue Mittelklasse. Dazu gesellt sich die sehr dünne Oberschicht (vgl. Kap.2). Die neue Mittelklasse kennzeichnet sich wesentlich durch den Hang nach Selbstentfaltung, urbanem Lebensstil, Hochschulabschlüsse und die Nutzung kulturell aufgeladener Kulturgüter, die das Gefühl von Einzigartigkeit (Singularität) vermitteln, während in der alten Mittelklasse die Individuen mehr auf Erhaltung des Standards, Abschottung gegen Fremdes, enge Familienbindung drängen und wesentlich auf dem Land angesiedelt sind.

Um Reckwitz einordnen zu können, lohnt sich ein Blick auf frühere Gesellschaftserzählungen.

Mit Helmut Schelsky „Nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ fing es 1953 an. Er war ein Theoretiker, der sich bewusst von Marx abwendete und den Klassenbegriff infrage zu stellen versuchte. Er beschrieb eine mit der Ökonomie wachsende Mittelschicht, in die die bislang verarmte Unterschicht sukzessive aufsteigen konnte, und die Oberschicht sogar teilweise abwärts stieg. Da sich das Einkommen aller allmählich steigerte verschwand die Unterschicht. Dieses Modell steht für das ökonomische Wachstum in der Industrialisierungsphase nach dem 2. Weltkrieg.

Noch ins Ende der Industriegesellschaft (1979) fällt die Arbeit von Bourdieu „Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft“ auf die sich Reckwitz bezieht. Man kann Bourdieus Beitrag durchaus als erste kultursoziologische Analyse betrachten. Im Unterschied zu Schelsky behält er den Klassenbegriff bei, differenziert aber die Gesellschaft in unterschiedliche Stiltypen, wobei er mit empirischen Studien nachweist, dass ein Lebensstil nicht vom Individuum selbst gewählt werden kann, sondern das Ergebnis eines Sozialisationsprozesses ist. Während also bei Bourdieu die Milieuzugehörigkeit gesellschaftlich determiniert ist, suggeriert Reckwitz in weiten Passagen seinem Leser, dass das sich selbst verwirklichende Subjekt aus der neuen Mittelklasse seine Singularitäten frei währen kann. Bourdieu führt auch die Begriffe des kulturellen, ökonomischen und sozialen Kapitals ein, wobei er das aber als Ausstattung der Individuen versteht, während Reckwitz auch von kulturellen Gütern im Sinne kulturell aufgeladener Konsumgüter spricht.

Bereits in den Beginn der Dienstleistungsgesellschaft 1986 fällt Ulrich Becks „Risikogesellschaft. Auf den Weg in eine andere Moderne“. „Die Grundthese lautet: Wir sind Zeugen eines Bruches innerhalb der Moderne, die sich aus den Konturen der klassischen Industriegesellschaft herauslöst und eine neue Gestalt, die so genannte (industriegesellschaftliche) Risikogesellschaft ausprägt. .. die Modernisierung (löst) heute die Konturen der Industriegesellschaft auf und in der Kontinuität der Moderne entsteht eine andere gesellschaftliche Gestalt. .. Um die zweite von der ersten, industriegesellschaftlichen Moderne abzugrenzen, unterscheidet Beck vor allem zwischen der „Logik der Reichtumsproduktion“ und der sich immer mehr durchsetzenden „Logik der Risikoproduktion“. In der fortgeschrittenen Moderne geht die gesellschaftliche Produktion von Reichtum systematisch einher mit der gesellschaftlichen Produktion von Risiken. (Wikipedia)

Beck ist also bereits ein „Desillusionierungsautor“. Er spricht vom Bruch in der Entwicklung. Der Umgang mit Risiken hat bei ihm durchaus Abstiegsmöglichkeiten zur Folge. Er führt mit Bezug auf Schelsky den Fahrstuhlbegriff ein, der aber nicht nur aufwärts sondern auch abwärts führen kann. Beck sieht bereits, dass mehr Hochschulbildung (Aufstieg) zur Entwertung klassischer Hauptschulbildung führt (Abstieg). Diese Gegenläufigkeit in den Teilentwicklungen und auch das Risiko bei der Produktion von bestimmten Kulturgütern wird von Reckwitz aufgenommen.

1992 in der Hochphase der von Reckwitz definierten Spätmoderne erscheint „Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart“ von Gerhard Schulze, der in Anlehnung an Bourdieu die Gesellschaft mittels repräsentativer Befragungen in 5 Milieus unterteilt, die nicht linear zum Einkommen verteilt sind. Allerdings verzichtet er auf ein Klassenmodell. In diesen Milieus [Niveaumilieu (Akademiker), Selbstverwirklichungsmilieu (Studenten) , Integrationsmilieu (Angestellte und Beamte), Harmoniemilieu (alte Arbeiter), Unterhaltungsmilieu (junge Arbeiter) ] zeichnet sich bereits ab, was Reckwitz für seine Analyse benutzt, die Zuordnungen moderne Mittelklasse und alte Mittelklasse sind unschwer zu erkennen. Reckwitz hat m.E. mit Schulze und der nach seinem Ansatz fortgeführten SINUS-Studie ein Problem. Er betont, dass in seiner Analyse die Polaritäten zwischen den Klassen entscheidend sind (Kap. 2, S.63), und wirft der SINUS-Studie vor, dass sie zwar wertvolle Einblicke gäbe, aber eben die Gesellschaft als Ganze harmonisiere (S.67). Er selbst führt keinerlei empirische Studien zur Untermauerung seiner Thesen durch. Um doch aber einen Nachweis zu haben, nutzt er gegen Ende des 2. Kapitels die SINUS-Studie und stellt fest „Mit Hilfe der Milieustudien lässt sich somit das Drei-Klassenmodell insgesamt differenzieren, und zugleich ermöglichen sie eine Schätzung der quantitativen Klassenstärken.“(S.125). Wenn nun doch die Milieustudie und sein Ansatz die gleichen Gruppierungen beschreiben, wo ist dann der große Unterschied?

Der grobe Rückblick zeigt – was eigentlich selbstverständlich ist – dass Reckwitz an den Modellen weiter arbeitet, die vorher schon entwickelt wurden, was er mit Zitaten auch absichert. Aber durch die Schöpfung etlicher neuer Begriffsungetüme und das ständige Absetzen von seinen theoretischen Vorgängern und besonders durch den Mangel an empirischer Unterfütterung besteht die Gefahr, dass er potemkinsche Dörfer aufbaut. Auch scheint mir ein Widerspruch zwischen seinen beiden Veröffentlichungen zu bestehen. Wie kann man von einer „Gesellschaft der Singularitäten“ sprechen, und dann das Modell einer Drei-Klassen-Gesellschaft entwerfen?

Zum Wortgeklingel

  • Die Begriffsattribute „post“ und „spät“, die Reckwitz liebt, implizieren einen Endzeitstandpunkt, denn was soll nach dem „Postindustrialismus“ kommen? Ist das dann der Postpostindustrialismus? Oder haben wir in den Anfangsjahrzehnten des 21. Jahrhunderts eine Spätspät-Moderne? Dass in einer Moderne die Erscheinungsformen der vergangenen Moderne aufgelöst werden, kennzeichnet die Definition einer Moderne, die immer gilt. Wer dann von einer Spätmoderne spricht schöpft nur einen Pleonasmus.
    Nebenbei: Im ersten Band spricht er im Titel von der „Moderne“, im 2. Band von der „Spätmoderne“, hat da die Redaktion nicht aufgepasst?
  • Unter Kulturalisierung versteht Reckwitz einfach die Beschreibung des kulturellen Geschehens in der Gegenwart, das klingt aber wohl weniger definitionsmächtig.
  • Seine Hyperkultur will meinen, dass in der Globalisierung auch die Kulturgüter in hohem gegenseitigen Austausch stehen und ubiquitär sind (S.36). Die Hyperkultur ist nicht kollektivistisch. Ihre Individuen sind darauf aus, kulturelle Elemente in ihrer Einzigartigkeit und Besonderheit, ihrer Singularität kennenzulernen und sie sich anzueignen (38). Mit dieser Definition habe ich ziemliche Schwierigkeiten. Reckwitz kann doch wohl nicht meinen, dass die Individuen (der neuen Mittelklasse) autonom ihre Kulturgüter wählen, dann fiele er ja hinter Bourdieu, auf den er sich gerne bezieht zurück. Wer z.B. seinen Wagner in Bayreuth reinzieht, tut das auf dem Hintergrund eines gehobenen Einkommens, und einer Milieuzugehörigkeit der Hochkulturkonsumenten
  • Unter Kulturessenzialismus subsumiert Reckwitz die wertkonservativen, fundamentalistischen Religionsausprägungen, den Populismus, die national-ethnischen Konzepte. Diese Kulturformen hätten wenig gemein, aber sie kennzeichne zusammen „die kollektive Identität einer Gemeinschaft“ (S.42). Wenn das der Begriffsanker für das Wortungetüm sein soll, so scheint der mir schwach zu sein. Würde Reckwitz die Besucher der Biennale in Venedig, die ja wohl explizite Vertreter der Hyperkultur sind, repräsentativ befragen, so würde er sicher auch ein Muster einer kollektiven Identität dieser Gemeinschaft herausarbeiten können.

Der Mangel an Empirie gefährdet auch seine Klassentheorie. Der Unterschied zwischen den Konzepten einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft und seinem Klassenmodell bestehe darin, dass er die Polarisierung zwischen den sozialen Gruppen heraus arbeite (S.63). Um das zu belegen, müsste Reckwitz qualitative Interviews von Vertretern der alten und neuen Mittelklasse durchführen, am besten auch als Zeitreihen, die belegen, dass signifikant deutliche Unterschiede in den Wertemustern vorliegen, die sich in den letzten Jahren noch verstärkt haben müssten. Reckwitz konstatiert zunächst durchaus Einkommensunterschiede, also ökonomische Trennungen zwischen Klassen. Er sagt dann aber: „Die neue Mittelklasse unterscheidet sich von der alten grundsätzlich durch das hohe kulturelle Kapital, vor allem das formale Bildungskapital, über das sie verfügt. Hinsichtlich der kulturellen Muster der Lebensführung, der Lebensprinzipien, alltäglicher Praktiken und Werte haben sich die drei Klassen auseinander entwickelt“ (S.89) Diese sehr schwammige Charakterisierung wird noch einmal erweitert, indem Reckwitz zugesteht, dass der Klassenbegriff eine Abstraktion sei, und dass man bei genauerem Hinschauen höchst disparate Einkommensgruppen und disparate Lebensstile in einer Klasse finden könne. Untergräbt eine solche Ausdifferenzierung nicht seine Polaritätsthese? Interessant ist auch, dass in dem Drei-Klassenessay (Kap.2) die neue Mittelklasse durch den Besitz von Kulturgütern ausgewiesen wird, der Singularitätsbegriff aber nicht mehr auftaucht. D.h. die Hyperkulturvertreter sind nun plötzlich Teil einer Klasse!

Ich kann mit Bezug auf Reckwitz auch die Gegenthese aufstellen, dass die Globalisierung und die mit der Digitalisierung verbundenen extrem schnelle Verbreitung von Informationen über die kulturellen Güter zumindest tendenziell zu einer globalen „Weichspülung“ seiner „Hyperkultur“ führen kann. D.h. sie dringt erstens in alle Winkel der Welt und zweitens natürlich auch in die Provinz, besonders in die die Metropolen umgebenden Kleinstädte. Das moderne Individuum trägt im Zweifelsfall Kulturelemente aus dem Prekariat, aus der alten und neuen Mittelklasse in einer Person widersprüchlich zusammen. Eine Person ist dann nicht mehr Repräsentant eines Milieus sondern zugleich mehrerer Milieus. Wer konstituiert dann noch eine „Klasse“? D.h. die behauptete Polarisierung nivelliert sich in der Tendenz zu einem Wertebrei in der gesamten Gesellschaft. Unter dem Prekariat findet man demzufolge Neonazis, aber auch Globalisierungsfans. Im Migrantenmilieu schieben bärtige Männer einen Kinderwagen und auf dem Bauernhof lebt eine ländliche Patchworkfamilie, in Sachsen Anhalt gibt es Orte, die eine extrem gute Integrationsarbeit geschafft haben, und migrationsfeindliches Denken geistert auch in Köpfen westlicher, urbaner Intellektueller. etc. Die Bildungsexplosion sorgt automatisch für eine Verbreiterung der Aneignung kultureller Güter. Dass z.B. die Gelbwesten meist aus der französischen Provinz Rabats machen, heißt ja nicht, dass die alle kulturell borniert sind, sie wehren sich sehr rational gegen eine seit Jahrzehnten verfehlte Strukturpolitik dieses Landes. Dass alles überall heute möglich ist, wirkt langfristig gegen eine kulturelle Polarisierung.

Auch politisch muss man nicht von einer Polarisierungszunahme sprechen. Früher standen sich in westlichen Demokratien der „rechte“ dem „linken“ Block gegenüber, aktuell beobachten wir die Polarisierung von demokratiefeindlich gegenüber demokratiefreundlich. Das ist unerfreulich, aber bezogen auf die Polarisierung nichts Neues. Das Schrumpfen der Volksparteien und die Zunahme der schwer berechenbaren Wechselwähler scheinen mir Ausdruck der breitgefächerten teils widersprüchlichen Wertemuster in den Köpfen der BürgerInnen zu sein.

Warum hält Reckwitz am Klassenbegriff fest? Die Antwort finde ich wenig überzeugend. Allein eine vermutete Polarisierung letztlich zwischen zwei Großmilieus begründet noch keinen Klassenbegriff. Die Oberschicht bleibt im Buch unterbelichtet. Statistisch mag die Gruppe klein sein, aber übt sie die gesellschaftliche Macht aus? Oder ist die neue Mittelklasse die herrschende Klasse in der Spätmoderne?

Dass unsere nationale und internationale Gesellschaft in einem rasanten Entwicklungsschub steht, bestreitet niemand. Wer in diesen Entwicklungsprozess Strukturen und Gesetzmäßigkeiten sucht, der muss vereinfachen. Es herrscht auch ein breiter Konsens, dass ein rein ökonomistischer Blick als Erklärungsrückrat zu eng ist. Die Kultursoziologie hat hier überzeugende wichtige Einblicke gewährt. Dem Titel nach strebt Reckwitz die Beschreibung von Politik, Ökonomie und Kultur an. Im Kleingedruckten schlägt aber in der Regel das kulturell orientierte Erklärungsmuster durch. Ob das Kulturwerkzeug langt, gleich eine Theorie zur sogar globalen Entwicklung zu entwerfen, bleibt dahingestellt.

[Anmerkung: Ich beziehe mich in meinen voranstehenden Ausführungen nur auf die Kapitel 1-3 des „Illusionsbandes“.]

 
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