Selbstgesteuertes Lernen – noch lange kein Selbstläufer

In der modernen pädagogischen Literatur gehört es seit ca. 20 Jahren zu den Selbstverständlichkeiten, dass wir keinen Unterricht mehr planen, sondern Lernräume gestalten, lehrzentrierte Lernformen sind out, der Lehrende ist ein Coach, und am besten wird selbstgesteuert gelernt, denn der Konstruktivismus lehrt uns ja, dass ein Lerner „unbelehrbar“ ist (Siebert). So weit die Theorie. In meinem letzten Beitrag zum VHSBarCamp habe ich vom autonomen Lerner berichtet, der nur noch das Raumsetting braucht und alles andere selbst einbringt.  Allerdings, wenn man z.B. in der psychologischen Pädagogik genauer nachliest, heißt es, dass selbstgesteuertes Lernen nicht voraussetzungslos ist. Gabi Reinmann,  Heinz Mandel (Unterrichten und Lernumgebungen gestalten 2006) präferieren da eher den „Pragmatismus“, der ein auf die Teilnehmenden zugeschnittenes Austarieren von Fremd- und Selbststeuerung, bzw. Instruktion und Konstruktion verlangt. Hier gelten aber nur Faustformeln nach dem Motto, so viel Instruktion, wie nötig, um Lernprozesse an Zielsetzungen auszurichten, aber so viel Loslassen, wie möglich, um der Selbststeuerung der Lernenden Raum zu geben.

In der Präsenz eines berufsbegleitenden Fernstudienganges experimentiere ich im Team seit Jahren an einer Lehreinheit zu Multimedia in der Bildung für nachhaltige Entwicklung mit Selbststeuerungsanspruch. Es geht um einen Wechsel von Exkursion im Gelände, Materialerfassung und mediale Ergebnispräsentation in Seminarräumen oder auf einer WEB-Plattform. Die Studierenden sollen dabei die Lerneinheiten selbst durchführen, um diese kennen zu lernen, damit sie sie später in ihrer Praxis anwenden können. Zwei Gruppen führen biologische Gewässeruntersuchungen an zwei Flussstellen durch, zwei Gruppen interviewen Bürger in der Stadt. Die Gruppen lernen mit fachkundiger Hilfestellung, die Qualität des Gewässers zu bestimmen, wobei sie ihre Befunde mit Fotos und Videos dokumentieren. Was sie dann allerdings aus den Befunden machen, welche Fragen sie sich stellen, welche Geschichte sie über die Untersuchung in ihrer Präsentation erzählen sollen, können (müssen) sie selbst entscheiden. Auch die Interviewgruppe hat das Oberthema „Nachhaltigkeit in der Stadt“, aber, was sie dazu fragen, was sie konkret herausfinden, und dann als Ergebnis präsentieren wollen, ist ihre selbst zu bestimmende Zielsetzung.

Erstaunlicherweise führt dieser kleine Selbststeuerungsfreiraum bei den Teilnehmenden gleich zu Beginn und im Prozess zu teilweise großen Frustrationen. Ich als „Coach“ beziehe Prügel, weil die Teilnehmenden den Frust, erst einmal nicht zu wissen, was sie nun genau machen sollen, an mir auslassen. Das Verlangen, dass der Lehrende einem sagt, wo es lang gehen soll, ist uns so einsozialisiert worden, dass ein Abweichen erst einmal auf Ablehnung stößt. Diese Teilnehmenden haben im Masterstudiengang zuvor eine Didaktikeinheit absolviert, in der Konstruktivismus und andere Lerntheorien fein säuberlich besprochen wurden. Ich habe in diesem Jahr extra zu Beginn des Seminars ein Rekurs auf die Didaktikkonzepte als Brücke zu unserer Veranstaltung geschlagen, wobei ich besonders die Methode des selbstgesteuerten Lernens präsentiert und präferiert habe – da gab es keinen Widerspruch. Nachdem die Gruppen aufgeteilt waren, habe ich noch einmal extra ein Prozedere empfohlen, wie man vorgehen sollte. Dabei war der erste Punkt: Zuerst eine Zielsetzung in der Gruppe finden, unter der das Material gesammelt und präsentiert werden soll. Was mir als Arbeitsanleitungs-Zaunpfahl erschien, war von manchen Teilnehmenden schlicht nicht wahrgenommen worden. „Ja, hätte man uns von Anfang an gesagt, dass wir das Ziel zuerst überlegen sollen,..“ oder „jetzt habe ich erst begriffen dass die Methode Selbststeuerung hier ausprobiert wurde, das hätte man mir zu Beginn sagen sollen…“ Diejenigen, die mir das gesagt haben, waren keine tumben, uninteressierten Teilnehmende, sie waren engagiert, und haben sehr gute Arbeit geleistet. Das zeigt um so mehr, wie schwer es ist, aus eingefahrenen Gleisen heraus zu kommen. Wenn man bedenkt, dass es einen EU-Beschluss gibt, der informelles Lernen (das ja selbstgesteuert verläuft) gleichrangig mit dem Lernen in formalen (Schule, Hochschule) und non-formalen (Weiterbildung, außerschulische Bildung) Kontexten stellt, dann ist doch erstaunlich, wie weit Theorie und Praxis auseinander klaffen.

Zum Glück war das Lernsetting nicht umsonst. Der Funke sprang über, dass Selbststeuerung zwar Frust bringen kann, aber dann doch eine sehr anregungsreiche, Kreativität hervorbringende Lernmethode ist, wurde mehrheitlich im Schlussfeedback geäußert.

 

 
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